Vor einiger Zeit ist mir bei meiner Haus-Spazier-Runde eine Frau begegnet, die ich von Innsbruck her kenne und die mir ab und zu in Bozen begegnet. Wir haben früher (beruflich) hin und wieder geplaudert. Jetzt geht sie grußlos an mir vorbei. Am Anfang dachte ich, sie hat mich nicht gesehen oder nicht erkannt. Aber das Nicht-Grüßen hat Methode. Erkennen, wegschauen, noch konsequenter wegschauen und vorbeigehen. Ich grüße und bin verblüfft. Grüßen gehört für mich zu den absoluten Basic-Zivilisationstechniken. Auch wenn man jemanden nicht mag. Natürlich passiert es mir auch immer wieder mal, also dass ich nicht grüße, weil ich nicht achtgebe, weil ich viel zu viel mit irgendetwas in meinem Kopf beschäftigt bin. Aber das hier ist anders. Was mag wohl in ihr vorgehen? Was mag sie über mich gehört haben? Ab und an erreichen mich ja Geschichten, wo ich unschlüssig bin, ob ich verärgert oder schmunzeln oder mir auf die Schulter klopfen sollte, dass ich offensichtlich einiges an Stoff abgebe, der beschäftigt. Wer möchte schon als Person unkommentiert durchs Leben gehen?
Eines ist klar: Kleinstadt ist nichts für schwache Gemüter. Wer ungeschriebene Benimm-Regeln zu weit verlässt, die wird rauf und runter besprochen, manchmal geradezu verleumdet. Männer haben es da immer noch leichter, aber lassen wir dieses Themenfeld hier außen vor. Ich würde für mich behaupten, dass meine Biographie den Rahmen dessen, was einer Frau Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts „erlaubt“ ist, zumindest in einem demokratisch verfassten und halbwegs aufgeklärten Land, nicht sprengt. Ich bewege mich durchaus innerhalb dessen wie eine moderne Frau heute ihr Leben gestaltet. Aber vielleicht täusche ich mich da? Ja, ich bin geschieden, hatte dann einige mehr oder weniger gelingende Beziehungs-Versuche und bin nun seit 11 Jahren mit meinem Mann sehr glücklich zusammen. Seit drei Jahren auch verheiratet. Ok, politisch nicht so leicht einordenbar. Ich nehme mir heraus mit meinem eigenen Kopf zu denken und mir wenige Blätter vor den Mund zu nehmen. Mit 19 auch aus der Kirche ausgetreten. Wohl gemerkt, den Pfad der kleinstädtischen Tugend kann man sehr wohl verlassen, nur muss dabei der Schein gewahrt werden. Den Schein zu wahren interessiert mich aber nur bis zu einem gewissen Grad.
Jede Gesellschaft, ob klein oder groß, braucht ihre Ordnung(en). Da bin ich die erste, die das unterschreibt. Dennoch lassen sich in diesen Ordnungen unterschiedliche Lebenswürfe gestalten. Ich mutmaße ja nur, ich hab ja keine Ahnung, was die Dame gehört oder nicht gehört hat, aber es muss etwas sein, was das, was sie innen drinnen zusammenhält, so stark durcheinandergebracht hat, dass grüßen nicht mehr drin ist. Ist es Missbilligung? Ist es Frustration? Oder vielleicht sogar Neid?
Damit lass ich es aber auch wieder sein. Einen Wunsch jedoch habe ich an die Damen (und Herren?) mit schlanker Biographie: Seid großzügig mit uns. Seid großzügig mit uns, deren Leben nicht so geradlinig, sondern ausufernder verlief, die immer wieder mal eine Nebenstraße begangen haben, steile Wege auf allen vieren bewältigen mussten und die auch die ein oder andere Einbahnstraße nicht ausgelassen haben. Und freut euch über euren eigenen Weg. Großzügigkeit sich und anderen gegenüber, das weiß ich aus eigener Erfahrung, macht zufrieden(er) und glücklich(er). Und den etwas zarter besaiteten Seelen, die ihr Leben dennoch selbstbestimmt und vielleicht auch etwas unorthodoxer leben möchten, möchte ich noch sagen: weiter so.
Yours,
Frau Susi
Liebe Susanne, dieser Text hat mich beim Lesen sehr amüsiert. Provinztechnisch betrachtet lebt man - ob in Bozen oder Bruneck - so ziemlich am Dorf. Das "Nichtgrüßen" auf dem Land wird ohne Übertreibung oft als Waffe eingesetzt. Der oder die "Nichtgegrüßte", wie in deinem Fall, tappt oft im Dunkeln bezüglich der Motivlage und sieht sich selbst mit quälenden Fragen konfrontiert. Genau darin liegt das Perfide dieser Methode. Um sich schnell aus dieser Schlinge zu befreien, braucht es eine ausreichende Portion an Egozentrik, die einem erlaubt, das "Problem" ausschließlich bei der anderen Person zu sehen. Mir ist das auch in der Vergangenheit passiert. Meine Antwort darauf suche ich immer in der direkten Konfrontation. Das Lustige dabei ist - die Menschen erwarten das nicht und sind dann meistens sehr verdattert. Ich nenne das angewandtes Theater. Liebe Grüße aus dem Zug Richtung Wien :)