Heute Nacht bin ich einige Male aufgewacht, habe so vor mich hin gedacht und wie das in der Nacht halt so ist, sind die Gedanken von einem zum anderen gewabert ohne Ziel und Agenda. Und es hat sich begonnen ein Thema für diesen Newsletter zu formen. Die Themen, über die ich schreibe, entwickeln sich, manchmal poppt etwas im Moment auf, manchmal dauert es Tage und Wochen, ich muss es jedenfalls spüren von innen. Themenplan habe ich keinen. Plan war aber, mich sofort nach dem Aufstehen an den Laptop zu setzen. Wenn ein Thema da ist möchte ich sofort zu schreiben beginnen. Davon konnte heute Früh keine Rede mehr sein.
Angesichts der Ungeheuerlichkeit der russischen Invasion in die Ukraine, ja, die abzusehen war, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, und die damit einhergehenden unabsehbaren weltpolitischen Konsequenzen, das Leid, das ein Krieg mit sich bringt, auf Jahre, vielleicht auch Jahrzehnte hinaus, ist es mir unmöglich mit Alltagsreflexionen daherzukommen. Ich hab mich also zum Radio gesetzt und erste Analysen verschiedener News-Plattformen überflogen. Seit kurzem habe ich die New York Times online abonniert und schätze ihre Perspektive(n) sehr. Ein Gefühl der Ohnmacht überkam mich, aber auch Ärger, gemischt mit Mitgefühl, dann wieder Lähmung, alles durcheinander. Verdammt noch mal.
Auch wenn ich glaube, dass der kleine starke Mann Russlands auf lange Sicht der Totengräber seines Reiches sein wird, ist das, was hier gerade passiert (und jahrelang vorbereitet wurde), auf längere Sicht ein einziger Alptraum. Ich habe nicht die Absicht den politischen Analysen und Berichten von kompetenter Seite eine persönliche Sicht der politischen Ereignisse beizufügen, aber einige Gedanken sind mir wichtig.
Was sich für mich in lange nicht gekannter Deutlichkeit zeigt: welch hohes Gut Frieden ist. Und wie sehr es darum geht, demokratische Strukturen zu stärken und nicht kaputt zu machen. Die westlichen Demokratien haben seit Jahrzehnten keinen Krieg mehr erlebt. Wir kennen das nicht mehr aus unmittelbarer Betroffenheit, sind sozusagen friedensverwöhnt. Von verschiedenen Seiten wird seit längerem moniert wie schwach Europa sei. Zerstritten, zu verweichlicht, zu wenig klar. In einigem stimme ich da auch zu. Aber: Europa ist ein Friedensprojekt, viel mehr als ein Wirtschaftsprojekt. Das gerät immer wieder aus dem Fokus. Und vor allem ist Europa ein Demokratie-und Rechtsstaats-Projekt. Wir haben gesehen, wie schwierig es wird, wenn hemdsärmelige Demokratieverächter sich stark zu machen beginnen. Dass ein solches europäisches Projekt mit endlos scheinenden Abstimmungen und Dialogen einhergeht, liegt auf der Hand. Weil hier eben nicht jeder einfach tun kann, was ihm beliebt. Dass es aber in Zukunft Mechanismen braucht, um nicht von einigen Ländern, die sich rechtsstaatlichen Prinzipien entziehen möchten und schon tun, lahmgelegt zu werden, denke ich, ist mit Nachdruck anzugehen.
Vor kurzem war mein Sohn für einige Tage zuhause und wir haben über viele interessante Dinge gesprochen. Er ist seit längerem mit sehr viel Einsatz mit dem Aufbau eines großen VC (Venture Capital)-Funds für einige der Emerging Markets beschäftigt und meinte, das einzige, was jetzt noch dazwischenkommen könne, ist ein Krieg. Den haben wir jetzt. Wir haben auch über energiepolitische Fragen diskutiert, auch das erscheint jetzt in einem anderen, noch dringlicheren Licht. Dass Europa sich hier unabhängig(er) machen muss von autokratischen Großwildjägern ist offensichtlich. Und auch, dass das auf vielerlei Kosten gehen wird. Ich bin immer wieder überrascht wie wenig sich mein Sohn und viele seiner Generation von politischen Wunschvorstellungen und ideologisch geprägten Argumenten leiten lassen. Mit denen ich noch aufgewachsen bin und bis heute herumrudere und zu unterscheiden versuche, was möchte ich behalten und was nicht. Lösungsorientiert, unideologisch und möglichst realistisch an die Sachen heranzugehen, das beobachte ich bei ihm. Ich erinnere mich noch wie ich als Mädchen mitmarschiert bin bei den Demonstrationen gegen Atomkraft. Der Sticker „Atomkraft nein danke” zierte meine Schultasche viele Jahre lang. Ich tu mich bis heute schwer auf die Nutzung dieser Energie nüchtern drauf zu schauen, auch wenn ich weiss, dass kein Weg daran vorbeiführt mittelfristig, zumindest nach aktuellem Stand der Technologie. Dass man Atomkraft und Erdgas als nachhaltig einstuft in Europa, finde ich einfach nur zynisch. Die aktuellen politischen Eskalationen aber werden uns hier einiges abverlangen. Vermutlich geht’s auch back to Braunkohle. Es ist doch wirklich zum verzweifeln.
Ich merke gerade, dass ich wie in der Nacht von einem zum anderen wabere. Ich bin durcheinander. Ohnmachts-Management ist wieder mal das Gebot der Stunde. Und es bleibt zu hoffen, dass die Leute, die uns politisch vertreten, das so gut als möglich machen. Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken. Und ich hoffe auch, dass wir den Wert von Frieden und Demokratie – ich glaube sie können nur zusammen gedacht werden –, wirklich zu schätzen wissen und im jeweils möglichen Rahmen alles dafür tun, dass das Projekt Europa nicht den Bach runter geht. Ich denke da auch an die in meinen Augen ziemlich falsch verstandenen „Freiheits”-Bekundungen der NoVax-Leute. Und noch mehr hoffe ich, dass sich dieser Krieg nicht zu einem Flächenbrand entwickelt.
Beim Durchlesen fällt mir auf, wie oft ich das Wort „hoffen” verwendet habe. Ich muss an den großen Ernst Bloch und sein „Prinzip Hoffnung” denken. Sein Hauptgedanke: Im Menschen steckt bereits die Utopie, die Vorstellung eines schöneren, gerechteren Lebens. Und da ist sie wieder die Utopie. Utopie hin oder her: Daran halte ich mich ein wenig fest.
Take care!!!
Yours,
Frau Susi
PS Eine heitere Wortmeldung hat es heute aber auch gegeben, und zwar aus dem Trump’schen Parallel-Universum. Mister Trump verlautbarte, dass das alles nicht passiert wäre, wenn man ihm nicht die Wahl gestohlen hätte. Genau.
Liebe Susanne,
ein wirklich schreckliches Erwachen heute morgen..... ganz und gar zum Verzweifeln......ich denke an das unsagbare Leid, das jetzt auf so viele Menschen zukommen wird und ich bin fassungslos ob dieser Kaltschnäuzigkeit, die wir hinnehmen müssen....
Aber wie ich halt so bin, denke ich auch immer darüber nach, warum Menschen so handeln, wie sie handeln. Natürlich macht es am Ende des Tages keinen Unterschied, warum "der kleine Mann aus Russland" einen Krieg anzettelt und alles mit Füßen tritt, was den Frieden der letzten Jahrzehnte ermöglicht hat, aber nur im Nachdenken über seine Beweggründe finde ich etwas Klarheit und bekomme wieder Boden unter die Füße, der kurz davor noch fast wegzurutschen schien.
Ich brauche das für mich! Helfen tut es niemandem. Und in diesem Fall glaube ich wirklich, es ist Angst.
Wie ich Dir heute schon einmal geschrieben habe, ist es doch der eigene Tod, der die größte narzisstische Kränkung eines jeden Menschen darstellt. Und je größer die Kränkung, desto größer die Angst davor, und je größer die Angst davor, desto größer die Unternehmungen aller Art, um diese Angst zu verbergen und zu verdrängen. Der "kleine Mann aus Russland" arbeitet mit allen Mitteln gegen seine Angst, und diese muss wirklich sehr groß sein, wenn man sich anschaut, was er alles so dagegen unternimmt, von Botox für sein altes Gesicht (was uns ja egal sein kann) bis hin zu diesem kalten, machtgierigen, ungeheuerlichen Rundumschlag, mit dem er uns leider nicht einmal mehr überrascht hat.
Wie gesagt, das alles hilft jetzt nicht weiter. Aber auf lange Sicht ist auch dieser Akt der Unmenschlichkeit vergänglich, so wie der "kleine Mann aus Russland", die Dinge ändern sich, mag es noch so lange dauern, und ich hoffe, dass am Ende des Tages das Friedensprojekt Europa bestehen bleiben wird. Wenn es in der Natur des Menschen liegt, sich ein schöneres und gerechteres Leben vorzustellen, wird es, solange es Menschen gibt, auch Menschen geben, die dafür einstehen. daniela
Ich teile das Putin-Bashing nicht. Empfehle einen Perspektivwechsel, um nicht immer nur das amerikanische Narrativ zu sehen. Siehe historische Erklärungen des Historikers Daniele Ganser zum Thema. Die Ukraine ist der Spielball der Nato (USA), die sich entgegen den Absprachen von 1990 aus geostrategischen Gründen immer weiter in den Osten ausdehnt. Und jetzt ist die rote Linie erreicht. Das Ganze ist natürlich weit komplexer. Aber es ist definitiv nicht ein Böser gegen den guten Westen, der die Menschen befreien möchte. Ich hoffe sehr, dass irgendwie noch die Kurve gekratzt wird in Richtung Frieden.