Vor kurzem wurde in einem Instagram Post gefragt, ob man sich der Fraktion „Glas halb voll“ oder der Fraktion „Glas halb leer“ zugehörig fühle. Die Postende war Fraktion halb voll und (fast) alle Kommentierenden auch. Ich hab mich in meinem Kommentar geoutet als wechselnde Gruppenzugehörige. Abgesehen davon, was man von solchen (Selbst-) Zuordnungen hält, eine solche Frage sagt doch einiges aus finde ich. Nicht nur über die Insta-Welt. Der Druck, alles als Herausforderung, am liebsten wird es Challenge genannt, als Opportunity und Möglichkeit zu wachsen anzusehen, hat eindeutig zugenommen. Darüber schreibe ich hier auch immer wieder. Kaum eine*r traut sich noch zu jammern, zumindest nicht öffentlich. Bitte ja keine negativen Vibes versprühen. Ich vermute aber, dass hinter den Kulissen und privat sehr wohl gejammert wird. Denn ein Spaziergang ist diese Zeit ja gerade wirklich nicht.
Wenn ich auf meine Familiensozialisation schaue, dann bin ich mit einem Vater aufgewachsen, der nie jammert und einer Mutter, die eher öfter unzufrieden war. Ich würde mal von mir sagen, ich bin da irgendwo dazwischen. Zufriedenheit mit dem, was ist, ist nicht unbedingt meine Stärke. Jedenfalls nicht über längere Zeit. Auch wenn ich nicht unbedingt jammere, will ich doch ständig etwas verbessern, verändern, (neu) ordnen.
Es gibt Leute, für die ist alles immer super, super, super. Ob es dann wirklich so ist, kann ich nicht sagen. Mir scheint das eher „Modell Decke drüber werfen“ zu sein. Dann gibt es welche, da stimmt fast immer irgendetwas nicht und es sind entweder andere schuld an der eigenen nicht so optimalen Befindlichkeit oder das Vergrößerungsglas wird auf sich und die eigenen Defekte gelenkt. Das Leben, vermute ich, ist für die meisten von uns mal so oder so, dann wieder anders oder zwischendrin.
Gerade scheint die Sonne. Sie scheint derzeit ständig. Ich würde das gerne ein wenig beklagen, weil es mich wirklich nervt, aber ich getrau mich das vor mir selbst kaum, weil ich mir denke, was sollen denn die sagen, die den ganzen Winter mieses Wetter haben, nie die Sonne sehen und auch noch fast depressiv dabei werden. Aber dieser ständig blaue, geradezu ordinäre Winterhimmel nervt mich dennoch. Mir fehlt die Feuchtigkeit, die Winterstimmung… Um der unangenehmen Trockenheit zumindest drinnen entgegenzuwirken hänge ich Wäsche auf, für die Winterstimmung habe ich fast den ganzen Tag eine Kerze brennen, räuchere mehrmals täglich eine kleine Weihrauchpyramide zu Asche und mache mir ab und zu einen heißen, wunderbaren Orangen-Punch. Ja, und schaue auch winterlich-nordische Netflix-Serien, zum Beispiel die isländische Serie „Trapped“.
Immer wieder nehme ich mir ein Beispiel an Musa. Er ist aus Gambia, Ende 20, sein genaues Geburtsdatum kennt er nicht, er hat hier Asyl bekommen und arbeitet bei uns in der Landwirtschaft zweimal wöchentlich. Musa kehrt Blätter, sammelt ein, sorgt ein wenig für Ordnung. Er hat Schreckliches hinter sich und auch sein aktuelles Leben ist alles andere als einfach. Musa ist immer guter Dinge und frohen Mutes, ich habe ihn nur einige ganz wenige Male ärgerlich gesehen, dann, als er wegen seiner Hautfarbe schlecht behandelt wurde. In Südtirol als POC zu leben ist schwierig und mit vielen Diskriminierungen verbunden, die meisten geschehen so nebenbei im Alltag. Ich kann mir ein solches Leben nicht mal vorstellen. Hier aus meiner Perspektive von Herausforderung und Opportunity zu sprechen würde ich als zynisch empfinden. Das ist dann doch wohl eher was für Zivilisationsverwöhnte.
Ihm gefalle es in Südtirol, sagt Musa, es gehe ihm besser als dort, wo er herkomme. Musa hat halbwegs Italienisch gelernt, spricht ein wenig Deutsch, hat verschiedene Schulen hier besucht und versucht sich soweit als möglich weiterzubilden. Nach Südtirol ist er als Analphabet gekommen. Das Beste aus dem zu machen was ist, das sehe, schätze und bewundere ich bei ihm und scheint mir auch die beste Strategie zu sein, eben mit dem klar zu kommen, was ist. Ohne Proklamation.
Dennoch möchte ich auf gelegentliches jammern dürfen nicht verzichten. Und zwar ohne gleich in der total unangesagten Fraktion „Glas halb leer” zu landen. Das sage ich auch zu meiner eigenen inneren Stimme, die sich da gerne zu Wort meldet. Überhaupt denke ich mir: Vielleicht ist es das Beste, die Selbstbefragung ab und an (so oft als möglich?) auf die Seite zu legen, den Blick nach außen zu richten und jemand anderem eine Freude zu machen. Einfach so. Und damit vielleicht sogar ein „Glas ganz voll” zu scoren.
Take care und bis zum nächsten Mal!
Yours,
Frau Susi
PS Und was hat sich im Blog getan? Hier einige Slow Fashion Vorschläge für das neue Jahr und hier stelle ich die italienische Slow Fashion Brand Oscalito vor, die seit 1936 „Made in Italy”, Qualität, Nachhaltigkeit und Transparenz in den Lieferketten in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellt.
Ehrlich sein ist gut. Eigene Bedürfnisse ernst nehmen entscheidend, um zufrieden zu sein/werden. Die ändern sich auch. Man sehnst sich immer nach dem, wovon man zu wenig hat. Wir leben von den Kontrasten. Die eigenen Privilegien sehen ist auch wichtig. Und den Blick auf andere lenken hilft, sich nicht sooo wichtig zu nehmen. Genauso, wie es Frau Susi macht…
„Erlauben“ fällt mir da von einer Bekannten ein, ich erlaube dem Himmel so zu sein, wie er will und erlaube mir, auch mal ein bisschen zu jammern!