#11 Zu viel oder zu wenig des Guten?
Frau Susi denkt über Hilfsbereitschaft nach und schweift immer wieder ab
Freunde, die vor einiger Zeit eine Wohnung vermieten wollten, erzählten mir Folgendes: eine unbekannte Frau sei auf sie zugekommen mit dem Vorschlag, die Wohnung an eine bedürftige Migranten-Familie zu vergeben, wobei der Vorschlag mit einer ausführlichen Begründung versehen war, wie gut es uns hier gehe, wie privilegiert wir seien, wie schlecht es den anderen bei uns gehe, und so weiter. Grundsätzlich alles richtig finde ich. Der Punkt ist nur, dass hier jemand unaufgefordert Hilfsbereitschaft von anderen einfordert und dabei tonnenweise schlechtes Gewissen verteilt. Mir stellt es da die Haare auf. Andererseits kann ich auch nachvollziehen, dass man mit allen Mitteln helfen möchte.
Wir leben in politisch aufgeladenen Zeiten, die Gegensätze werden größer statt kleiner, zumindest beobachte und lese ich das. Die Welt ist in einem Ausmaß ungerecht, dass ich immer wieder fast verzweifle daran und auch wütend werde. Gerne würde ich die ein oder andere Luxus-Jacht versenken (ohne Menschen drin versteht sich), wenn sich dadurch irgendetwas ändern würde. Diese Ohnmacht auszuhalten ist nicht immer leicht, auch wenn das wehleidig klingt aus privilegierter Perspektive. Ob ich mir aller meiner Privilegien wirklich bewusst bin? Eher nicht, zu viel ist einfach immer noch selbstverständlich. Als weiße, in Europa geborene Frau, weiß ich zwar wie es sich anfühlt, sich allein in der Nacht auf der Straße oder alleine im Wald körperlich nicht immer sicher zu fühlen. Oder wie es ist, wenn einem bei einer Konzept-Präsentation alle Männer (Frau saß keine in diesem Entscheidungsgremium) auf die Beine starren anstatt dem, was man sagt zuzuhören. Weitere Beispiele könnten einige Seiten füllen. Als Frau habe ich zumindest ein Gefühl dafür, was es heißt, nicht immer ernst genommen zu werden, aber was tägliche Diskriminierung bedeutet und mit einem macht, kann ich nur erahnen. Ich schweife ab.
Ich bin immer wieder überrascht und berührt, wie viele hilfsbereite Menschen es gibt. Menschen, die kurzfristige, mittel- und auch langfristige Hilfestellungen leisten. Sie sind nur nicht so laut wie die Egoisten. Vor kurzem habe ich mit Frauen gesprochen, die im „VinziMarkt“ in Bozen aktiv sind. An die 40 Freiwillige arbeiten hier mit und helfen Bedürftigen das alltäglich Lebensnotwendige zu bekommen. Und zwar nicht von oben herab, sondern respektvoll und zugewandt. Ein tolles Projekt.
Ich kenne Leute, die regelmäßig Migranten mit praktischer Hilfe unterstützen, andere, die sich intensiv in entsprechenden Vereinen engagieren, ihre Fachkompetenzen gratis zur Verfügung stellen oder Leute, die Menschen in ihre Wohnungen aufnehmen. Ich könnte das nicht. Aber ich kann anderes. Mein Mann und ich haben einige soziale Projekte und es sollen mehr werden. Natürlich kann man grundlegende Hilfeleistungen nicht ausschließlich dem Gutdünken und der Laune Privater überlassen. Dazu braucht es öffentliche Strukturen, am besten in Zusammenarbeit mit privaten Initiativen, darüber hinaus entsprechende Gesetze und vor allem den Willen einer Gesellschaft Teilhabe und Teilen als grundlegende Werte anzuerkennen. Nicht nur in Sonntagsreden.
Zurück zum Ausgangsthema und worauf ich eigentlich hinauswill: der hoch erhobene Zeigefinger funktioniert nicht, anderen ein schlechtes Gewissen zu machen, ruft eher die gegenteilige Reaktion hervor. So pubertär das sein mag. Ich kenne mich gut, wenn mich jemand mit Vorwürfen oder überzogenen Erwartungshaltungen überschüttet, dann geht der Rollladen irgendwann runter. Nicht dass ich stolz darauf wäre. Auch ich neige dazu den Zeigefinger zu erheben. Mir hilft da immer wieder der Blick in die Wissenschaft, vor allem auf die „conditio humana“. Als Mensch, das Mensch-Sein besser zu verstehen, macht mich toleranter. Wir Menschen haben durchaus einige Möglichkeiten, wir sind keine Sklaven unserer Gene, aber es liegt nun mal in unserer Natur, dass wir nicht nur nächstenliebende und kooperative Heilige sind. Egal welcher Nation, Religion, Gruppe, welchem Volk, welcher Hautfarbe angehörend.
Sendungsbewusstsein, für andere zu wissen was gut und richtig ist und was sie zu tun haben, kann sehr ungut werden. Hilfsbereitschaft kann kippen. Dieser Zwang zu helfen, die Sucht gebraucht zu werden, wer kennt sie nicht, die Leute mit einem ausgeprägten Helfersyndrom?
Das letzte, was ich mir wünsche, ist eine Öko-sozial-vegane Weltverbesserungs-Diktatur. Ich will natürlich überhaupt keine Diktatur. Wir haben lange genug dafür gekämpft, gesellschaftliche Systeme und Religionen mit totalitärem Machtanspruch in Schach zu halten. Also geht es wohl nur mit dem demokratischen Spiel der Kräfte, das mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung schwenkt und Freiräume lässt. Dass das sehr oft sehr unbefriedigend ist und Veränderungen sehr lange dauern können, gehört dazu. Leider. Ich schweife schon wieder ab.
Hilfebereitschaft wirke sich positiv auf unser tägliches Wohlbefinden aus, das hat eine Studie der Yale University kürzlich festgestellt. Umso mehr gute Taten – hierbei reichten Kleinigkeiten, wie jemandem die Türe aufzuhalten, oder sie/ihn anzulächeln, oder einer alten Dame den Platz im Bus zu überlassen –, desto weniger Stress und bessere Laune habe man. Diejenigen Probanden, die sich nur auf sich selbst konzentrierten, wiesen ein eindeutig höheres Stress-Level auf. Erklärt wird dieser Effekt folgendermaßen: „Wenn man sich nicht auf sich selbst, sondern auf andere konzentriert, lenkt man sich ab und der Stress lässt nach. Außerdem schafft man mit Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft automatisch Nähe zu anderen Menschen und fühlt sich nützlich, was wiederum der Seele gut tut. Die Hormone, die dabei ausgeschüttet werden, tragen enorm zur Stressreduktion bei.“ (Quelle: Prosocial behavior mitigates the negative effects of stress in everyday life. Clinical Psychological Science). Vielleicht inspiriert das ja den ein oder die andere?
Aufgezwungene Hilfsbereitschaft nervt jedenfalls. Auch eingeforderte. Ich mag es überhaupt nicht auf der Straße bedrängt zu werden. Automatisch wehre ich ab oder weiche aus. Das Wort sagt es ja schon: Es geht immer um Bereitschaft, um ein Entgegenkommen. Und um die Freiheit, Hilfe auch annehmen zu wollen. Wie seht ihr das?
Yours,
Frau Susi
Im Sustainable Fashion Blog gehts diese Woche um ein interessantes Buch, in dem die Kulturanthropologin Giulia Mensitieri hinter die Kulissen der Haute Couture blickt. Nicht so schön, was sie hier sieht und beschreibt.
In meiner Zeit als Taxifahrer zu Studienzeiten bekam ich von den unteren sozialen Schichten meistens deutlich mehr Trinkgeld, als von offensichtlichen reichen Menschen. Warum war das so? Klar, weil die, die geizig sind, sind wohlhabend geworden! Das greift wohl zu kurz. Aber ich glaube schon, dass sich die untere soziale und teilweise auch die Mittelschicht mehr Gedanken um Hilfsbereitschaft für Arme macht. Wieder könnte ich fragen, warum ist das so?
Und wenn mir ein penetranter Bettler mit unterwürfiger bestens einstudierter Mimik und Gestik ein paar Euro entlocken will, dann macht das auch etwas mit meinem Gefühl. Abweisend vorbeizugehen, auch wenn ich weiß, dass mir 5 Euro nicht wehtun und auch wenn ich weiß, dass meistens nicht die aufdringlichen Bettler die wirklich Notleidenden sind, fällt mir nicht leicht. Wiederum die Frage: Warum ist das so?
Würde ich mich wohler fühlen, wenn ich selbst den Weg der Armut wählen würde? Kann gut sein. Aber geholfen wäre der Gesellschaft damit wahrscheinlich auch nicht...
Helfen ist einfach und schwierig zugleich. Und ja, ich bin mir meiner Privilegien nicht vollständig bewusst. Da gibt es eine interessante Studie: bei einem Monopolyspiel bekam ein Teil der ProbandInnen deutlich mehr Geld und verdiente auch bei jeder Miete und bei jedem Zug über Los das Doppelte von den anderen. Es war unmöglich für diese SpielerInnen, zu verlieren. Und jetzt kommt‘s: obwohl das allen klar war, glaubten die GewinnerInnen trotzdem, dass sie einfach gute SpielerInnen seien und aufgrund ihres Geschicks zum Reichtum gekommen seien. Ich bin der Meinung von diesem Mechanismus sind wir alle nicht ganz frei. Unbewusst.