Vor einiger Zeit unterhielt ich mich mit meinem Vater über die Entwicklung der deutschen Sprache bzw. hat er mir seine Sicht der Dinge vorgetragen. Mein Vater hat sich ein Leben lang neben der wissenschaftlichen Arbeit mit viel Herz und Hingabe der Lehre gewidmet, das heißt aber auch, ein Gespräch ist in erster Linie ein Vortrag. Um die deutsche Sprache steht es anscheinend nicht besonders gut. Experten gehen davon aus, dass sie in 150 Jahren vermutlich nicht mehr unter uns weilt. Die feindliche Übernahme komme vor allem aus der Anglosphäre. Ein Riesenverlust komme da auf uns zu, meint mein Vater. Da meine Reaktion eher in die Richtung ging „Well, so be it, wir haben mit Klimawandel und all den Folgen doch viel existentiellere Probleme anzugehen“, folgte eine Reihe von Beispielen, die ich aber bis auf die Philosophie alle vergessen habe. Das Englische sei zu unpräzise um ernstzunehmende philosophische Texte hervorzubringen. Allein das Deutsche könne das. Erklärend muss ich hinzufügen, dass mein Vater alles andere als ein Nationalist oder rechter Recke oder sonst was Ungutes ist. Da er in der jüngeren Philosophie nach Foucault, der bekanntlich nicht Deutsch formulierte, nur Habermas wirklich gelten lässt (die anderen haben nur Philosophie studiert), frage ich mich, ob der philosophische Verlust dann wirklich so auffallen würde?
Ich muss gestehen, dass ich da nicht wirklich mitreden kann, ich kenne mich zu wenig aus. Aber ich kann einige populär-sprach-kulturelle Beobachtungen beisteuern. Als Fashionista (möglichst nachhaltig) konsumiere ich einiges an Zeitschriften und Texten über Mode, gerne in inhaltlich anspruchslosen Blättern wie Grazia oder Instyle. Ich finde es wichtig, zu verstehen, wohin der Mainstream geht, außerdem unterhält er mich. Und da muss ich sagen, fällt mir schon auf, dass die Anglizismen und Superlative ein Ausmaß erreicht haben, das auch mir beginnt auf den Wecker zu gehen. Ich verwende ja gerne zwischendrin englische Ausdrücke, auch in meinen Texten. Manches lässt sich besser (präziser?) ausdrücken oder beschreibt die Stimmung besser. Vielleicht auch, weil meine Schwester seit sehr langer Zeit in den USA lebt und wir mehr englisch als deutsch miteinander sprechen, beziehungsweise durcheinander sprechen, ich gerne englische Bücher lese und als Netflix-Süchtige auch englisch fernsehe oder es ist einfach Ausdruck sprachlicher Verspieltheit.
Diverse Mode- und Lifestyle-Texte haben es aber schon in sich. All die genialen Pieces, die happy machen und updressen. Wir comitten uns und shapen unsere Reality und bitte keine Pressure. All die Opportunities und Challenges, all die Me-time und der maximale Flow. Oder besser Glow? Empowerment und Selfcare, und wenn das nicht hilft, hilft sicher ein Deep-Talk. Klar, wir rocken unser Leben! Da hört sich jeglicher deutsch sprechender Selbstrespekt schon auf. Oder?
Wikipedia sagt mir, dass der Wortschatz der deutschen Standardsprache ca. 75.000 Wörter umfasst, die Gesamtgröße des deutschen Wortschatzes wird je nach Quelle und Zählweise auf 300.000 bis 500.000 Wörter bzw. Lexeme geschätzt. Lexeme? Muss ich googlen. Also: „Syntaktische Wörter, die sich wesentliche Merkmale wie Grundbedeutung und Wortart teilen, werden zu einem Lexem zusammengefasst. Die verschiedenen Flexionsformen eines Verbs gehören zum selben Lexem: So sind singen, singt, singst Instanzen eines Lexems; singen und Sänger sind zwei Lexeme.“
Ich gehe davon aus, dass ein halbwegs gebildeter Deutscher einen beachtlichen Umfang des möglichen Wortschatzes ausschöpfen kann. In Österreich geht es schon etwas bergab, als Österreicherin weiß ich das aus eigener Erfahrung, und in Südtirol, das habe ich vor langem mal gelesen, bewegt sich der Durchschnittsdeutschsprechende anscheinend mit gut 1000 Wörtern durchs Leben. Kann das wirklich stimmen? Im Alltag jedenfalls lässt sich beobachten, dass statt schön, lieblich, gut, fein, toll, wunderschön, anmutig, gesellig, phantastisch, hübsch, wohlig, angenehm, ausgezeichnet, brillant, gelungen, gefällt mir, prima, fabelhaft, finde ich gut, hervorragend, wunderbar, cool, beeindruckend, ein „geil“ oder ein „brutal geil“ meist vollkommen ausreicht.
Auf politischer Sprachebene – ich begebe mich jetzt nicht auf sprachliche Gender- oder andere Themenebenen –, sondern auf das gesprochene Wort von Politiker*innen (ich mag den Stern), schaut es auch nicht gerade gut aus. Ich schaue gerne bundesdeutsche Nachrichten, weil die sprachlich einwandfrei sind. Da gibt’s keine falschen Satzende-Betonungen, der Rhythmus stimmt, der Ton ist unaufgeregt, sicher, alles etwas aseptisch und unterkühlt, aber sachlich und wohl formuliert. Und man kann sich auf den Inhalt konzentrieren und muss nicht wie hierzulande ab und an mitzittern ob der Moderator/die Moderatorin glimpflich über den Text kommt. Auch wenn ein deutscher Politiker Schmarrn redet, kommt es doch meist recht ordentlich formuliert daher (was den Schmarrn natürlich nicht besser macht). Aber wenn wir Wittgenstein ernst nehmen, dass Sprache Wirklichkeit schafft, und – verzeiht den bis zur Erschöpfung runter und rauf zitierten Satz – „die Grenzen meiner Sprache, die Grenzen meiner Welt bedeuten“ dann ist das wohl kein ganz zu vernachlässigendes Thema.
In Österreich haben sich seit einiger Zeit auffällige Floskeln eingenistet. Vermutlich rennen alle Politiker*innen zum gleichen Rhetoriktrainer. Das hört sich dann so an: „Ich sage ganz klar“, 10 x hintereinander. Variante: „Ich betone ganz klar“. Alle sprechen nun Klartext. „Und ja“, (Betonung auf ja), „wir sehen das ganz klar anders“. In Südtirol haben nicht wenige Politiker schon mit dem Satzbau Schwierigkeiten, da können Floskeln durchaus einiges überbrücken.
Die deutsche Sprache muss sich, wie wir sehen, auf vielen Ebenen gegen heimtückische Vernichtungstendenzen wehren. In Frankreich gibt’s eigene Exekutiv-Organe um die Sprache vor zu vielen Eindringlingen zu schützen. Ich bin da hin und her gerissen. Ich liebe die deutsche Sprache, ein holprig geschriebenes oder übersetztes Buch lege ich weg, schlecht gesprochenen Nachrichten höre ich nicht zu, aber ist es wirklich hilfreich eine Untergangs-Lamentatio anzustimmen?
Wie gesagt, ich mute meiner deutschen Sprache einiges zu. Fremdwörter, Anglizismen, Verdrehungen, Formulierungen, oft nur des Spiels wegen. Auch grammatikalische Stürze passieren. Ich kann mich aber in keiner anderen Sprache so ausdrücken wie in der deutschen. Gegen eine gute Mischung habe ich wenig, ich liebe Tische, wo verschiedene Sprachen gesprochen werden und alles ein wenig durcheinander geht. Sprache ist immer ein Ausdruck der Gesellschaft. So schaut es eben aus. Je mehr wir zusammenrücken und uns austauschen, desto weniger erhält sich eine „reine“ Sprache. Was ist das überhaupt? Hat es ja nie wirklich gegeben. Genauso wenig wie eine „reine“ Kultur. Nationaler Schwachsinn. Ob ich traurig bin, dass die deutsche Sprache langsam ihrem Ende entgegengeht? Das schon. Vielfalt ist immer auch Reichtum. In jeder Sprache wird auch anders gedacht, stehen andere Kulturen, Codes und vermutlich auch epigenetische Prägungen dahinter. Einheitsbreidenken und -sprechen und -leben is not great.
Wie seht ihr das???
Yours,
Frau Susi
p.s. Im Blog stelle ich euch diese Woche „Lottozero” vor, ein Zentrum für textiles Design, Kunst und Kultur in Prato, das die Südtiroler Schwestern Tessa und Arianna Moroder gegründet haben.
Übrigens ein tolles Bild von Dir, von oben, beim Betrachten der Zeitschriften!
„Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht“
Liebe Frau Susi! Letzte Woche ist mein Vater verstorben, deshalb etwas verspätet zumindest ein kurzer Kommentar, den Du Dir für Deine Ausführungen immer verdienst!
Der kurze mittlere Teil vom Panther von Rilke ist für mich Inbegriff des Reichtums der deutschen Sprache, der Klang, der Rhythmus, der Ausdruck und die Möglichkeiten der Interpretation: für mich wird gerade von meinem Vater, von mir und sogar auch von Dir gesprochen...Du wirst wohl wiedersprechen: Dein Wille ist nicht betäubt!?