#44 Frau Susi ringt um ihr Maß an Self Care
Eigentlich sollte ich Augenyoga machen. Meine Sehkraft lässt merklich nach. Aber wo soll ich das zeitlich noch unterbringen? Yoga ist gut und gesund und gehört heute zu einem bewusst-achtsamen-westlichen Lifestyle dazu. Als ich vor 40 Jahren damit anfing, war das noch eine mit größter Skepsis beäugte Praxis. Yoga habe ich schon seit längerem wieder mal auf Eis gelegt, dafür mache ich Pilates. Und rudere ab und zu, fahre mit dem Fahrrad und gehe so viel als möglich zu Fuß. Um fit und gesund und zuversichtlich für das Leben heute gerüstet zu sein – so schallt es mir von überall entgegen –, ist viel zu tun, von alleine geht gar nix. Und da ich tendenziell das Leben ernst nehme und dazu neige eher zu viele Pflichten zu erfüllen als zu wenige, macht es mich immer wieder mal unruhig ob der Frage: Mache ich zu wenig? Tue ich genug für mich? Körper, Seele und Geist wollen ja gleichermaßen bedacht werden. Die To-do-Liste jedenfalls wird länger und länger.
Fast schon selbstverständlich soll der Tag mit Meditation starten. Auch damit habe ich in meinen Teens begonnen, aber immer wieder jahrelange Pausen eingelegt. Seit einigen Wochen meditiere ich wieder ziemlich regelmäßig, mache ein paar Atemübungen und massiere meine Ohrläppchen um den noch verschlafenen Körper auf Aktivmodus umzustellen. Mal sehen wie lange ich diesmal dabei bleibe. Der Morgenroutine-Empfehlungen damit aber nicht genug. Eigentlich sollten da noch Gymnastikübungen folgen oder ein flottes Morgentraining. Auch „Journaling“ ist geradezu ein Must. Alles wichtige, was man so denkt, beobachtet und vor allem fühlt, soll da notiert werden. Vielleicht auch noch was Aufbauendes lesen? Nachrichten hören in der Früh? Energetisch ungestörte ME TIME ist das Credo der Morgenstunde. Hat ja auch was für sich. Die täglichen Nachrichten sind durchaus nicht leicht zu ertragen. Auch regelmäßige Dankbarkeitsübungen gehören zu einem einwandfreien Start in den Tag heute dazu. Ich führe kein Journal, dankbar bin ich immer wieder nur spontan.
Der alternde Körper ist Ziel vielfacher Marketingbegierden. Seit längerem schon bekomme ich ungefragt jede Menge Tipps und Tricks gegen Falten, Menopause-Fettpölster, Krampfadern, Augenringe, schlaffe Muskulatur und Spannendes mehr auf den Socials zugesandt. Das Programm, das jeweils empfohlen wird, wird zeitlich immer als gänzlich unproblematisch dargestellt. Die 5, 10, 15 Minuten hier, die 30 Minuten dort sind doch leicht machbar. Das bist du dir doch wert oder? Einzeln ja, aber zusammengezählt wird es aufwendig. Und wer möchte nur Augenyoga machen und sich nicht um erschlaffende Muskeln kümmern? Das ganze Ernährungsthema ist dabei noch nicht mal gestreift. Was? Du machst kein Intervallfasten? Als Nicht-Anhängerin dieser neuen Religion werde ich höchstens süffisant-wissend angelächelt. Dabei achte ich natürlich auf meine Ernährung. Aber die gleichzeitige Ausrichtung auf Tierwohl, den Regenwald, das Klima, faire Produktionsbedingungen, Pestizidverseuchung, lokale Kreisläufe und verschiedenste Ernährungsschulen überfordert mich immer wieder. Auch der Dschungel an Supplements ist ziemlich verwirrend. Wird also so Daumen mal π umgesetzt. Aber nicht, dass ich den allzeit präsenten und ständig steigenden Druck hier richtig ernst zu machen nicht spüren würde.
Mein Vater, der auch immer wieder die ein oder andere Empfehlung bereithält (vor allem in Bezug auf wichtige Bücher und wichtige Atemübungen) – meine Mutter war früher Großmeisterin in neuen To-dos, mein Mann ist da sehr entspannt, wenn dann bin ich es, die ungefragt Empfehlungen für ihn bereithält – sagt mir dann, wenn ich dankend mit „keine Zeit“ abwinke, „man hat für alles Zeit, was einem wichtig ist.“ Ja, genau. Mir ist aber viel wichtig. Und wir wissen alle, dass Prioritätenlisten meist schon beim Erstellen zum Scheitern verurteilt sind.
Eigentlich ist der Tag schon fast verplant, denn da ist ja noch sehr viel mehr zu erledigen, wie regelmäßig zur Zahnkontrolle zu gehen, Blumen gießen, weitere Vorsorgeuntersuchungen machen, Wohnung aufräumen, Insta Posts und Stories machen, schauen, was und wie es die anderen machen, sich um Essen und Einkauf kümmern oder zumindest einteilen wer was wann macht, wichtige Bücher und Artikel lesen, die ein oder andere Reise oder Stunde der Langeweile planen, die ja wichtig ist, wenn man kreativ arbeitet, Kunst anschauen, Kleiderschrank aufräumen, an der Psyche arbeiten, den Humor nicht verlieren, Freunde anrufen und sehen, sich um Familie kümmern, die italienische Bürokratie ohne sich zu viel zu beschweren abwickeln. Wer hat da überhaupt noch Zeit zu arbeiten? Wenn ich mir mein Arbeitspensum aber anschaue, frage ich mich schon, wie geht denn das alles? Und wehe, wenn Sand ins gut geölte Getriebe kommt. Also Unvorhergesehenes daherkommt. Denn klar ist ja auch: der gestresste Mensch ist uncool, relaxte Präsenz muss sein, ja nicht jammern und fluchen und bitte keine zu negative Sicht auf die Zukunft. Wir schaffen das.
Ein paar Abstriche mache ich aber: keine Kuchen backen und komplizierte Rezepte ambitioniert nachkochen, schlecht geschriebene Bücher lege ich schnell zur Seite, schlecht gesprochenen Nachrichten bin ich nicht gewillt zuzuhören, wenn Möbel mal stehen in der Wohnung, bleiben sie auch dort, bei der Kosmetikerin war ich gefühlt 5-mal bisher in meinem Leben (außer Mani und Pedi so zweimal im Jahr), auch invasive Langzeit-Schönheitsprojekte verfolge ich nicht, Smalltalk mag ich nicht und versuche den daher, manchmal recht uncharmant, zu vermeiden, Veranstaltungen, wo man zu sein hat, interessieren mich auch nur begrenzt, komplizierte Haushaltsgeräte kommen mir nicht ins Haus, also solche wo man stundenlang versucht die Anleitungen zu verstehen. Da spare ich mir eigentlich ganz schön was ein bereits oder? Da könnte ich doch wirklich mit Augenyoga beginnen.
Yours,
Frau Susi
P.s. Da ich oft denke, die anderen machen viel mehr als ich oder machen es viel besser: vielleicht verratet ihr mir eure Alltags-Überlebens-Self-Care-Rezepte?