Bis vor kurzem las mein Mann immer NZZ online. Da sich die Neue Zürcher Zeitung aber unter der Chefredaktion von Blocher-Freund Eric Gujer – ich unterstelle ihm weltanschauliche Skrupellosigkeit – konsequent, mal leiser, mal lauter, ins rechtspopulistische Eck manövriert, und vermutlich irgendwann dem Schicksal der „Weltwoche“ erliegen wird, nämlich ins journalistisch Bedeutungslose zu entschwinden, hat mein Mann zu ZEIT online gewechselt. Da ich mir DIE ZEIT nur sporadisch analog kaufe, komme ich so immer wieder in den Genuss von Artikeln, die ich sonst nicht entdecken würde. Zuletzt den von Sven Stillich über die „Stillen Aufträge der Familie“.
Das Fazit gleich vorneweg: „Um zu seiner eigenen Identität zu finden, muss jeder Mensch Erwartungen seiner Familie enttäuschen.“ Der Autor geht davon aus, dass sich natürlich die meisten Eltern für ihre Kinder nur das Beste wünschen, dass sie glücklich werden, dass sie gesund bleiben und vielleicht auch erfolgreich sind. Sehr oft aber gehe es vor allem um die Eltern selbst. „Nichts hat einen stärkeren Einfluss auf die Kinder als das ungelebte Leben der Eltern“, wusste schon C.G. Jung. Der Autor zitiert auch Winston Churchill, der irgendwann ziemlich ernüchtert festgestellt hat: „Die Hälfte des Lebens verbringt der Mensch damit, die falschen Vorstellungen seiner Vorfahren loszuwerden; die andere damit, seinen Kindern falsche Ansichten beizubringen.“
Es ist ja nicht so, dass ich mich nicht seit langer Zeit mit meinen psychologischen Innen-und Außenansichten beschäftigen würde – nicht als Pflichtaufgabe, sondern durchaus mit Freude –, aber der Artikel hat mich einige Tage sehr beschäftigt. Ist es nicht so, dass mein Sohn das humanistische Gymnasium vor allem darum besucht hat, um meinem Vater, für den die Welt der antiken Griechen das ein und alles ist, eine Freude zu machen? Und dass sich Konstantin mit dem Griechischen nie recht angefreundet hat, sondern es eher eine Qual war, vor allem als er die vierte Klasse Oberschule im Italienischen Lyzeum besuchte und Griechisch ins Italienische hin- und herübersetzen musste? Oh Boy. Und dass ich ihm homöopathische Monster-Touren auferlegte, um meine Mutter nicht zu enttäuschen? And so on, mir ist da noch einiges eingefallen…
Die Erwartungen meiner Eltern nicht zu erfüllen ist mir aber durchaus immer wieder gelungen. Nach schon früh unternommenen Anstrengungen, Erwartungen zu entsprechen, kamen die Querschüsse, besser die innere Kraft der langsam sich entwickelnden eigenen Persönlichkeit, unweigerlich. Manchmal nur zaghaft, manchmal mit voller Wucht, auch über das Ziel hinausschießend. Mit dem, was einem so in die Wiege gelegt wurde und wo man hineinsozialisiert wurde, zurechtzukommen ist ein Teil des Erwachsenwerdens, noch wichtiger scheint mir der Teil, die stillen Aufträge der Familie aufzuspüren.
Die Erwartungen meiner Eltern richtig zu enttäuschen, ist mir gelungen, als ich mir erlaubte, mich mit Mode zu beschäftigen. Das Thema ist gewissermaßen zu mir gekommen, ich habe es nicht bewusst gesucht. Das klingt vermutlich etwas eigen. Erlauben? Aber die Welt der Mode steht für alles, was bei uns zuhause nicht angesagt war: Oberflächlichkeit, der äußere Schein, Konsum, Eitelkeit, Banalität, Profitgier, ja, auch Dummheit. So. Ist ja nicht alles ganz falsch, aber irgendwie doch, denn es gibt vielfältige Herangehensweisen und Perspektiven. Für mich aber hat sich eine neue Welt aufgetan, die mir Zugang zu mehr Spiel, Kreativität und Leichtigkeit eröffnet hat. Ich mache nach wie vor das, was ich auch vorher gemacht habe, ich erzähle Geschichten von Menschen, Projekten, Initiativen, die ich interessant finde, die in meinen Augen einen Unterschied machen und die ich sichtbar(er) mache. Ich bin auch nach wie vor das Kind meiner Eltern, weil mir die kapitalismuswachsame, auf Nachhaltigkeit, soziale Verantwortung, Klimagerechtigkeit und Transparenz gerichtete Perspektive wichtig ist und ich meinen (kleinen) Beitrag leiste, die (Mode-) Welt zu verändern. Nur so hat dieses Feld für mich auch Sinn. Für diese Wertevermittlung bin ich dankbar.
Diese Schritt für Schritt gewonnene Freiheit oder fachspezifischer gesagt „Emotionale Selbstbestimmung“ stimmt mich Schritt für Schritt heiterer. Es geht ja nicht um lebenslange Pubertät, lebenslangen Widerstand, genauso wenig um Anpassung ohne sie wirklich mitzubekommen. Besagter Autor schreibt auch: „Aber ohne harte Schnitte ist die Freiheit nicht zu haben.“ Es gälte vor allem zu lernen unerwünschte Aufträge und eigene Wünsche zu unterscheiden. Ob ersteres immer so sein muss? Je mehr die Eltern im eigenen Leben angekommen sind, desto weniger hart fallen diese Schnitte vermutlich aus beziehungsweise glaube ich, dass es eher um das richtige Verhältnis zwischen Nähe und Distanz geht und auch das schaut bei jeder/jedem anders aus. Aber ich stimme ihm zu, ohne herauszufinden, wo ich Aufträge von anderen erfülle, einem Weg folge, der nicht meiner ist – aus welchen Gründen auch immer –, lebe ich nicht nur mein eigenes Leben nicht, sondern gebe das auch an meine Kinder weiter.

In den letzten Tagen und Wochen entstand in mir der Wunsch wieder mehr Fokus auf meine Coaching-Tätigkeit zu legen, Menschen dabei zu begleiten, zu unterstützen, ihren eigenen Weg zu gehen. Ich möchte die Schnittstellen meiner vielfältigen Welten ausbauen. „Die einzige Konstante in unserem Leben ist Veränderung” – das gibt einem in der Zwischenzeit ja fast jeder Ratgeber mit auf den Weg –, mag für manche verunsichernd klingen, mich beflügelt es.
Nochmal zurück zu den stillen Aufträgen: Es geht also darum, sich von den familiären Erwartungen und Stimmen, die nicht zu uns passen, zu verabschieden. Und dabei nicht zu erwarten, dass wir dafür Beifall bekommen. Das ist das nächste Gespräch, das ich mit meinem Sohn führen werde.
Have a good time! Bleibt mir gewogen.
Yours,
Frau Susi
In gewohnter Manier hier noch ein paar Links: In meiner Radiosendung „Wie geht Zukunft?” war vor kurzem der Informatiker Michael Haller zu Gast. Wir unterhielten uns über smarte Textilien, intelligente Schnittstellen, über nachhaltige Elektronik und wohin uns die rasant zunehmende Smartness unserer Umgebung noch führen wird. Hier gehts zum podcast.
Im Blog schreibe ich über den Weg der Textilmesse Milano Unica zu mehr Nachhaltigkeit und begeistere mich für den Schmuck der jungen Südkoreanerin Eunseok Han, die wunderschöne Broschen, Ringe und Ketten aus weggeworfenen Dosen macht.