Ich muss euch leider gleich zu Beginn enttäuschen, denn es geht hier heute nicht um das, was ihr vermutlich erwartet. Es geht nicht um leidenschaftliche Beziehungsthemen, es geht darum, wo der Begriff der Leidenschaft in letzter Zeit so auftaucht und welche Haltung mir daraus zu sprechen scheint.
Vor einigen Monaten überholte ich einen LKW eines großen Transportunternehmens, der mir mitteilte, dass der hinten groß abgebildete Mitarbeiter, die abgebildete Mitarbeiterin, mit Leidenschaft bei der Sache ist, mit Leidenschaft nach der besten Lösung sucht, sozusagen leidenschaftlich ehrgeizig ist, alles super zu bewältigen. Bei den Personen handelt es sich wie mir scheint – weitere LKW´s begegnen mir regelmäßig – um brave, nette Erscheinungen, schön gekämmt, dezent und praktisch gekleidet, ein sanftes Lächeln im Gesicht. Leidenschaft??? Muss man jetzt als Angestellter eines Transportunternehmens Leidenschaft als Kardinaltugend mitbringen?
Auch ein deutsches Schraubenunternehmen macht leidenschaftlich gerne Schrauben. Es ist erstaunlich, welche Verbindungen die Leidenschaft gerade so eingeht. Mit Holz, mit Metallen, mit Logistik – aus dem Führungs- und Innovationsvokabular ist sie gar nicht mehr wegzudenken.
Schauen wir doch mal in Wikipedia nach, was die uns zum Begriff Leidenschaft sagen: „Leidenschaft ist eine das Gemüt völlig ergreifende Emotion. Sie umfasst Formen der Liebe und des Hasses, wird aber auch für religiösen, moralischen oder politischen Enthusiasmus benutzt und beschreibt die intensive Verfolgung von Zielen von beispielsweise Kunstliebhabern, Sammlern oder von Tierfreunden. Im heutigen Alltagssprachgebrauch ist ein Zusammenhang mit „Leiden“, von dem sie abgeleitet ist, kaum noch präsent.“
OK, zunächst mal kommt Leidenschaft von Leiden, das scheint der Sache vielleicht näher zu kommen. Es gibt doch jede Menge Jobs, die mit Selbstverwirklichung eher wenig zu tun haben. Oder seht ihr das anders? Das scheinen aber die Marketinggurus dieser Unternehmen nicht zu wissen. Wollen die mir wirklich erzählen, dass tagein tagaus Transportlogistik zu betreiben „eine das Gemüt völlig ergreifende Emotion“ ist?
Wikipedia weiter: „Die antike Philosophie der Stoa sah in der Beherrschung der Leidenschaften (Affektkontrolle) ein wichtiges Lebensziel. Die Mäßigung (insbesondere die der Lust) ist eine der vier platonischen Kardinaltugenden.“ Mir scheint, dass da aktuell wohl einiges verwechselt wird. Die neoliberalistische Vereinnahmung des Menschen erwartet die totale Hingabe, von Mäßigung keine Spur. Wir müssen 100% brennen für unsere Jobs. Nur das volle Programm zählt. Niemand scheint mehr was normales normal machen zu dürfen. Es muss mindestens Passion oder Leidenschaft mit dabei sein, man muss immer seinen Traum verfolgen. Wie der zum Beispiel mit lebenslangem Drehen von Schrauben verwirklicht wird, muss mir mal jemand erklären.
Jedenfalls geht’s um Emotionen. Und die werden heute großgeschrieben. Die Sache überlegter und ruhiger anzugehen, mal aus der Distanz draufzuschauen, nachzudenken, scheint geradezu unpopulär geworden zu sein. Emotion ist authentisch, wer leicht entzifferbare Gefühle zeigt ist ein (scheinbar) berührbarer Mensch und so fort. Wer laut schreit hat (vermeintlich) Recht, weil er ja seine Gefühle in die Welt hinausschreit. Nichts gegen Gefühle, sie gehören zu unserem Menschsein, aber so einfach ist das dann doch nicht. Die Pandemie zeigt uns das jeden Tag. „Die Macht des Gefühls“ hat uns bereits einige zusätzliche Corona-Runden eingebrockt. Und vieles, was als sogenanntes Gefühl daherkommt, ist einfach nur Egoismus oder schlechte Manieren.
Unser gesellschaftlicher Umgang mit Emotionen prägt uns, die Medien spielen dabei eine entscheidende Rolle. Aber das heißt nicht, dass man sich hier völlig ergeben muss und nicht auseinanderhalten sollte, was, was ist. Und dabei vor allem nicht die Sensibilität für Gefühle verliert, die meistens ja viel zarter und stiller sind, als uns das vorgemacht wird.
Zurück zur Leidenschaft. Wer schon einige Zeit auf der Welt ist, weiß nur zu gut, dass Leidenschaft in vielen Fällen auch Leiden schafft. Dass sie dazugehört zum Leben, dass es aber ratsam ist mit ihr umgehen zu lernen und sie vor allem dort zu belassen, wo sie hingehört: zu den Momenten, in denen das Gemüt völlig von Emotionen ergriffen wird.
Yours,
Frau Susi
p.s. im letzten Newsletter ist einiges schief gegangen. Die abgebildete Kirche ist nicht in Assisi, sondern in Orvieto. Und bei Evviva, fehlte ein v. Sorry, wurde online korrigiert.
p.p.s Das Gespräch mit Gabriela Oberkofler für meine Radiosendung „Wie geht Zukunft?“ auf Rai Südtirol hat mir viel Freude gemacht, da ist auch einiges Interessantes drin finde ich. Wir sprechen über ihre aktuelle und viel beachtete Ausstellung in der Villa Merkel in Esslingen „Api étoilé – ein wachsendes Archiv“. Gabriela sucht in ihrer Arbeit nach Schnittstellen zu gesellschaftlichen Phänomenen, im Mittelpunkt stehen die Pflanzen und was wir von ihnen lernen können. Den Link zum Gespräch gibt’s hier.
p.p.p.s. Und im Blog habe ich mit Guya Merkle gesprochen, sie bringt mit ihrer Brand „Vieri“ Fine Jewellery und Nachhaltigkeit zusammen, sie ist eine Pionierin in diesem Bereich. Nach einer Ausbildung am Gemological Institute in London und dem Besuch verschiedener Goldminen, wo sie mit eigenen Augen sah, was da wirklich abging, gründete sie 2012 die Earthbeat Foundation. Ziel der Foundation ist es, einen legalen, sicheren, nachhaltigen und umweltschonenden Umgang mit dem Rohstoff Gold zu etablieren. Interessiert? Hier geht’s zum Interview.
Nun, gerade heuer habe ich mir einige Leiden geschaffen und auch wenn der Kopf diese Dinge alle schon geklärt hat, waren die Herzschmerzen so stark, wie Mann es mit 53 gar nicht für möglich hält. Um diese Gegebenheiten wissen natürlich die Werbestrategen und setzen sie dennoch oft deplatziert ein.
Auf jeden Fall komme ich gerade in der unglaublichen Weite der französischen Küste, den tollen Wolkenstimmungen und der Kraft des Atlantiks wieder mehr zu mir und das fühlt sich gut an, gar nicht leidenschaftslos😉